Zurück ins Tal

Gegenwart und Zukunft im Indierock der 90er

Lange Zeit habe ich gern die Geschichte erzählt, wie froh wir eines schönen Tages waren, mit dem Tourbus unserer Band «Die Fünf Freunde» über die Kasseler Berge gelangt zu sein. Das Ding war so alt, dass wir stets drohten, ins Tal zurückzurollen. Die Achse hing auf halb acht und die Sitzbänke standen ungesichert im Laderaum. Gebannt blickten wir auf das Tachometer, wie es bei voll durchgedrücktem Gaspedal ganz langsam zurückging. Es muss um 1993 gewesen sein, und uns wäre seinerzeit nicht in den Sinn gekommen, über die Abgaswerte dieser Dieseldreckschleuder zu sinnieren. Wenn ich heute daran zurückdenke, stellt sich die Frage unmittelbar. Aber so ist es halt mit dem Denken und der Wahrnehmung: Sie haben ihre Zeit und ihren Ort.

Die Ausgangsthese dieser Phase 2-Ausgabe ist interessant: Früher verspielten wir eine Zukunft, die doch eh egal war, zugunsten der reinen Gegenwart. Heute denken wir viel an eine Katastrophen-Kaskade, die schon begonnen hat und versuchen durch radikalen Wandel unseres Verhaltens das Schlimmste zu verhindern. Aber der Reihe nach: War das damals wirklich so, war uns die Zukunft gleichgültig?

Wenn ich an die 1990er Jahre zurückdenke, an die sogenannte Hamburger Schule, an Diskursrock und Riot Grrl, dann kommt mir die Angelegenheit doch nicht so zukunftsvergessen vor. Schon die smarteren Post-Punk-Entwürfe waren über das politische Zeitgeschehen gut informiert gewesen, denken wir nur an Gang of Four oder Scritti Politti, die durchaus in der Lage dazu waren, unter Verwendung von französischer Theorie zu beschreiben, warum der Neoliberalismus unser alsbaldiges Verderben bedeuten werde. Mit solchen Bands sind wir aufgewachsen (natürlich nicht NUR mit solchen).

In Hamburg trat bereits Ende der 80er Jahre die Kolossale Jugend auf den Plan. Was Sänger Kristof Schreuf hier – wie auch später mit der Band Brüllen – auf der Bühne betrieb, war eigentlich die Förderung politischer Bewusstwerdung, permanente Diskussion, endlose Aushandlung und völlige Verweigerung rockistischer Dienstleistung. Das hat geprägt. Wenn ich mich recht erinnere, wurde in Hamburgs Kneipen dieser Jahre sehr viel geredet, auch über Politik, eigentlich ununterbrochen. Natürlich war die Atmosphäre nicht frei von Platzhirschen und Besserwisser:innen. Aber waren wir hedonistisch und uninteressiert an dem, was kommen sollte? Nicht, dass ich wüsste. Nur, dass unsere Bezugsgröße vielleicht weniger die Welt im Ganzen, sondern eher die Bundesrepublik war. Mit den Fünf Freunden hätten wir gern das Stück «Liebling, lass uns Waffen klauen (und dann den Staat zu Schrott zerhauen)» als Single veröffentlicht, doch das war unserer damaligen Plattenfirma zu heikel.

Als mit Bikini Kill und Team Dresch die Riot Grrl-Bewegung über den großen Teich schwappte, konnten wir gut daran anschließen, weil alle Voraussetzungen aktivistischer Kollektive bereits vorhanden waren. Aber es war auch kein blindes Abfeiern. Ich habe um die Jahrtausendwende tatsächlich meine Abschlussthesis an der Uni über Riot Grrl geschrieben, und mich sehr daran abgearbeitet, dass es zwar für viele gute Impulse, aber meines Erachtens eben doch nicht für eine nachhaltige Bewegung reichte. 180 schmerzhafte Seiten lang.

Dies soll keine Verteidigungsrede sein. Das wäre unangemessen und auch pathetisch. Vor allem hilft es uns nicht weiter. Mich interessiert eher, wie die Geschichte weitergegangen ist und womit wir es heute zu tun haben. Mein eigener Blickwinkel ist insofern besonders, als ich vor 15 Jahren in die Schweiz gezogen bin und der Indie-Begriff hier völlig anders belegt ist. Das prägt zwar mein unmittelbares Umfeld, spielt aber für den Arbeitsalltag keine große Rolle, weil ich just seit meinem Umzug eine Radiosendung namens «Golden Glades» produziere, die alle zwei Wochen auf dem Hamburger Sender ByteFM zu hören ist. Mein Bezugsfeld ist also international (ohne dass ich einen Fuß vor die Tür setzen müsste). Ich habe mir für diese Sendung zweierlei vorgenommen: Einerseits gute Neuveröffentlichungen vorzustellen, die anderswo nicht gespielt werden und andererseits vergessene Schätze der Musikgeschichte zu heben.

Ich habe es also permanent zu tun mit dem Vergleich alter und neuer Produktionstechniken. Das ist – abgesehen von meinen ästhetischen Vorlieben – eine recht interessante Sache: Sind die Produktionen aus den 60er und 70er Jahren häufig verschwenderisch instrumentiert, regelrechte Materialschlachten, haben wir es heute oft mit Positionen zu tun, die kaum etwas benötigen. Kurioserweise liegen die Unterschiede klanglich nicht immer auf der Hand: Ob im Studio ein Streichorchester gespielt hat oder jemand sehr geschickt mit digitalen Verfahren umzugehen weiß, ist selbst für Expert:innen manchmal schwer herauszuhören.

Womit hat diese Beschränkung der Mittel zu tun? Natürlich mit den neuen technischen Möglichkeiten, auch mit der Pandemie, mit der Vereinzelung – aber vielleicht eben doch auch mit einem Bewusstsein dafür, musikalische Visionen mit sparsamen Mitteln umsetzen zu können. Das ist mit Sicherheit ein Phänomen der Gegenwart. Und doch glaube ich, dass der Do-it-yourself-Ansatz solcher Produktionen seine Wurzeln im Post-Punk-Spirit hat. Damit sind keine Versäumnisse der Vergangenheit entschuldigt, aber es ist doch – an einem vielleicht nebensächlichen, aber für mich nicht unwichtigen Beispiel – der allzu dichotomische Gedanke relativiert, dass es einen kategorischen Spalt gebe zwischen unserer Generation und den Nachgeborenen. Ich glaube, dem ist nicht so, so empfinde ich es jedenfalls nicht. Wir sind seinerzeit mit sehr wenig ausgekommen, und zwar aus Überzeugung, auch wenn der politische Überbau damals ein anderer gewesen sein mag. Unsere second-hand Klamotten trugen wir nicht der Nachhaltigkeit wegen, sondern weil’s cool aussah – und weil wir uns nichts anderes hätten leisten können.

Es bringt nichts, sich auf einmal – vor langer Zeit – getroffene Positionen zurückzuziehen. Auch sollten wir uns jene Heldengeschichten, die Menschen im mittleren Alter so häufig ungefragt von sich geben, sparen und stattdessen schauen, was wir in der Gegenwart anbieten können: Wir haben eine gewisse Übung im katastrophischen Denken, das ja seit jeher linker Imagination zu eigen ist. Und die weniger Selbstgerechten unter uns sind sogar in der Lage dazu, umzudenken, etwa zu begreifen, dass der eigene Blick nie neutral ist – und sei es, dass die eigenen Kinder es einem beibringen.

Die Zukunft im Indierock also, wir wollten sie nie verspielen. Und die zahllosen Musikeschaffenden der Gegenwart, die sich in diesem kaleidoskopischen Genre mit seinen dutzenden Unterkategorien noch immer herumtreiben, auch wenn das keine signifikante Konsumentengruppe bemerkt, sie ticken natürlich anders als wir in den 90ern. Haben andere Modelle, leben in anderen Produktionsverhältnissen, drücken sich anders aus, ziehen sich anders an – aber am Kern dieser Musik und der Haltung, die sich in ihr Ausdruck verleiht, hat sich nicht so viel getan: Es geht nach wie vor darum, Wege abseits der Gleise zu finden und Gesten abseits der offensichtlichen. Vielleicht bin ich blind, kann aber nur sagen: Die Binarität zwischen einer Vergangenheit ohne Zukunft und einem Heute in neuerwachter Apokalyptik: Ich kann sie nicht erkennen, ich glaube sogar, es gibt sie nicht.


Dieser Text von Sandra Zettpunkt erschien zuerst im April 2024 in Phase 2 − Zeitschrift gegen die Realität.

Zurück und vorwärts

Ob das Glück in der Zukunft liegt oder in der Vergangenheit, daran scheiden sich die Geister. Unsere kleine Sendereihe steht dabei ganz eindeutig auf keinerlei Seite: Hier wird regelmäßig innovatives Material herbeigeschafft, aber auch das Gold aus den Archiven bemüht. In diesem Sinne widmen wir uns heute u.a. der Kompilation «Under the Bridge Vol. 2», die neue Aktivitäten aus dem Umfeld des legendären Indiepop-Labels Sarah Records versammelt.

Zurück und vorwärts  war zu hören am Mittwoch, den 06.03.24 – 17:00-19:00 Uhr. Wdh.: Donnerstag, 07.03. von 7:00-9:00 Uhr und Samstag, 09.03. von 15:00-17:00 Uhr

Stream online here: ByteFM
Hamburg UKW: 91,7 & 104,0 MHz & DAB+
Berlin DAB+: Kanal 7B


ArtistTrackLabel
Taylor DaukasPearlMoone Records
The MellonsSo Much To SayEarth Libraries
The Juniper BerriesRole ModelEarth Libraries
Sofia BoltGo AwayBorn Losers Records
Laetitia SadierPanser L'inacceptableDrag City
The Bevis FrondHere For The Other OneFire Records
The BeatlesShe Said She SaidParlophone
The Bevis FrondMaybe We Got It WrongFire Records
MooonRichard Has a RacecarSoundflat / Exelsior
Kelley StoltzReni's CarDandy Boy / Agitated
The MaureensSunday DriverMeritorio
Mol SullivanOnly Onceself-released
PinbackLoroCutty Shark Records
The PearlfishersMaking Tapes For GirlsMarina Records
Peter HallWhat Are You Waiting For?peterhallmusic.bandcamp.com
Bored At My Grandma's HouseShow And TellClue Records/EMI North
BnnyGood StuffFire Talk
FestivalTodayCherry Red
Ger EatonSeason ChangesDimple Discs
CorridorMourir DemainSub Pop
The InfinitesThe DeadMeritorio
The InfinitesThe ExpatMeritorio
Elephant StoneLost in a DreamFuzz Club Records
Apollo GhostsFake NurseYou've Changed Rec.
Action Painting!Just Who Are The Cockleshell Heroes?Skep Wax
Gentle SpringDodge The RainSkep Wax
The Field MiceFabulous FriendShinkhansen Recordings
AutocamperBonfire NightPrefect Records
Special FriendPaints a PicturePrefect Records
Jane WeaverRomantic WorldsFire Records
Cool SoundsBUG0BEATChapter Music
Faye WebsterThinking About YouSecretly Canadian

Golden Glades

Golden Glades is a region in Florida, a mountain in India, a Teenage Fanclub B-side – and also the name of a radio show on ByteFM. After 12 years of fronting Sunday Service, the award-winning radio show from Hamburg, Sandra Zettpunkt set out to explore new horizons. From the perspective of her cosy Swiss attic she scours the globe for timeless treasures – those lost rays of light in the Golden Glades of music history. Expect a hand-picked string of glittering gems, presented in a daring range of themed programmes.

Enjoy every second Wednesday (even calendar weeks) via live stream from 5:00–7:00pm CET (rerun on Thursday, 7:00-9:00am CET and Saturday, 3:00–5:00pm CET on ByteFM.

Hamburg VHF radio: 91,7 und 104,0 MHz.
Berlin DAB+: Channel 7B


Golden Glades ist eine Region in Florida, ein Berg in Indien, eine Teenage Fanclub B-Seite und auch der Titel einer Radiosendung auf ByteFM. Nach zwölf Jahren Kundendienst beim Hamburger Sunday Service eröffnet sich Sandra Zettpunkt ein anderer Horizont: Von einem Berner Oberstübchen aus sucht ihr Blick nach funkelnden Lichtungen. Golden Glades durchforstet das Dickicht des Musikdschungels nach zeitlosen Schätzen, um sie zu abenteuerlichen Themensendungen zu verschnüren.

Auf Sendung alle zwei Wochen mittwochs (gerade Kalenderwochen) per live stream von 17:00 – 19:00 Uhr auf ByteFM und 917xfm . Wdh.: donnerstags 7:00-9:00 Uhr und samstags 15:00 – 17:00 Uhr.

Hamburg UKW: 91,7 und 104,0 MHz.
Berlin DAB+: Kanal 7B

Social media & sharing icons powered by UltimatelySocial